Yilmaz Holtz-Ersahin
Leiter der Interkulturellen Bibliothek in der Stadtbibliothek Duisburg, langjähriges Mitglied der dbv-Kommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit
"Ich kann aus meiner beruflichen Praxis und auch aus meiner persönlichen, biografischen Geschichte sagen, dass mir in Deutschland die Bibliothek eine Heimat angeboten hat. Und Beheimatung bedeutet Integration in die Gesellschaft. [...] Die Sehnsucht nach Heimat kann über verschiedene Medien überbrückt werden. Das muss natürlich nicht nur in der jeweiligen Muttersprache sein."
Welche Wünsche an eine Bibliothek werden an Sie herangetragen von Migranten und Geflüchteten, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben?
Sie haben Sehnsucht nach ihrer alten Heimat, die sie über das Medium Buch überbrücken wollen. So ist es vor allem bei den Geflüchteten, die noch nicht lange hier sind. Sie haben zwar ein neues Zuhause, aber trotzdem haben sie noch eine nostalgische Beziehung zu ihrer alten Heimat. Die Sehnsucht nach ihr kann über verschiedene Medien überbrückt werden. Das muss natürlich nicht nur in der jeweiligen Muttersprache sein. Aber ein Zeichen des Willkommens ist natürlich auch fremdsprachige Literatur, alle sagen: "Falls ich mal Literatur aus meiner Heimat in der Bibliothek entdecke, dann ist das etwas Schönes." Ich kann aus meiner beruflichen Praxis und auch aus meiner persönlichen, biografischen Geschichte sagen, dass mir in Deutschland die Bibliothek eine Heimat angeboten hat. Und Beheimatung bedeutet Integration in die Gesellschaft.
Darüber hinaus wünschen sich Migranten im Bereich der Erstintegration Materialien zum Erlernen der deutschen Sprache, die sie ausleihen können, aber auch Räumlichkeiten, die sie für ihr Selbststudium nutzen können. Viele Migranten und Flüchtlinge haben keine geeignete Möglichkeit, sich zu Hause oder in den Unterkünften ungestört weiterzuentwickeln. Es gibt keinen ruhigen Platz, manchmal keinen Tisch zum Lernen.
Was wünschen sich die Eltern speziell für ihre Kinder von einer Bibliothek?
Viele wünschen sich Sprechstunden zum Bildungssystem in Deutschland - wie kommt man hier weiter? Wie können wir unsere Kinder unterstützen? Wo erhalten wir Hilfe? Wir haben ja auch verschiedene soziokulturelle Institutionen, die helfen können bei diesem sozialen Ankommen in Deutschland. Wir bieten solche Gesprächsrunden an. Was auch gut bei uns in der Stadtbibliothek Duisburg läuft, ist das Format "Heimat Duisburg", dabei kann man den Eltern zeigen, was man in Duisburg unternehmen kann, welche Angebote es gibt, welche Anlaufstellen es gibt, wo und wie Kinder ihre Freizeit gestalten können.
Welche Materialien und Angebote bieten sich aus Ihrer Sicht besonders gut an, um die Familien in die Bibliothek zu „locken“?
Also, nützliche Informationen über das Gastland bzw. das neue Heimatland. Aber auch über die eigene Kultur. Das war auch damals schon attraktiv für die Gastarbeiter, dass diese Informationen in den Bibliotheken bereitgestellt wurden, dass kulturelle Veranstaltungen kostenlos besucht werden können, dass ihnen multilinguale Medien zur Verfügung stehen. Es ist hilfreich, wenn Eltern wissen: ich kann die Sprache des neuen Heimatlandes erlernen, meine Kinder erweitern sich in der neuen Bildungssprache Deutsch, aber auch in der alten Sprache, in der wir sozialisiert wurden. Das ist bei vielen Eltern so etwas wie ein Ur-Wunsch.
Wenn Sie als Deutscher in Barcelona leben würden oder in den USA, würden Sie zwar Englisch oder Spanisch lernen wollen, aber auch gern ihre Muttersprache pflegen. Und das richtet sich nicht gegen die neue Sprache, sondern das ist einfach Multilingualität. Wie viele Kinder deutscher Diplomaten leben im Ausland mit unterschiedlichen Sprachen?
Es sind so viele Menschen bei uns, die ihre Kinder multilingual erziehen, auch weil die Menschen in dieser globalisierten Welt sich nicht in Sprachen aufhalten. Natürlich müssen die Menschen Deutsch lernen! Das ist wichtig, das würde ich jedem ans Herz legen.
Aber die Muttersprache ist etwas Sentimentales – ich denke, jeder Mensch sollte das Recht haben, seine Muttersprache zu pflegen.
Welche Materialien und Angebote bzw. Veranstaltungen bieten sich an, um diese Personen gut auf das Ankommen im Alltag in Deutschland vorzubereiten?
Wichtig wäre, dass wir in den Bibliotheken Informationen, die auch multilingual oder in einer einfachen Sprache geschrieben sein können, über das Leben in Deutschland, über das Rechtssystem, den Alltag, die Werte und Normen zur Verfügung stellen. Denn nicht wenige kommen ja aus Kulturen, aus Diktaturen, aus gesellschaftlichen Kontexten, die nicht unbedingt mit europäischen Kontexten vereinbar sind. Das heißt nicht, dass sie nicht offen sind für Freiheit. Aber sie können durch die Angebote der Bibliothek leichter lernen, frei zu werden, frei zu denken, und das sind auch Überlebenstechniken hier.
Dabei ist es wichtig, dass die Materialien, die man hat, in Form von Veranstaltungen angeboten werden. Das können ganz verschiedene Themen sein, wie zum Beispiel: Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland, Frauenrechte, Emanzipation, Demokratie in Deutschland - es gibt so viele Themen, die bei vielen anders verankert sind. Was auch gut funktioniert: Verkehrsregeln in Deutschland – mit dem Fahrrad unterwegs, Biodiversität, Mülltrennung und Nachhaltigkeit. Ich biete zum Beispiel bald eine Veranstaltung an zum Thema "Wälder in Deutschland - wie geht man mit Wasser, mit Ressourcen um?" Es sind so viele Themen, die man anbieten kann, dieser Phantasie ist keine Grenze gesetzt.
Alle vorhandenen Materialien, zum Beispiel Broschüren zum Thema Demokratie etc., sollten auch mit Hilfe von Führungen zugänglich gemacht werden. Sonst stehen die Informationen nur einfach da, und man fühlt sich dann frustriert als Bibliothekar oder Bibliothekarin. Und die Vermittlung der Materialien, dieser Medien, das bedarf einer intensiven Kontaktarbeit.
Welche Angebote und Medien werden gern genutzt von Migrantencommunities, die schon längere Zeit in Deutschland leben? Was bietet sich hier Ihrer Meinung gut an, um für diese Personengruppen als Bibliothek attraktiv zu werden?
Diese ganzen Communities kennen sich untereinander, und wenn man sie erreicht hat, hat man praktisch auch die anderen erreicht. Wir haben bei uns die erste Gastarbeitergeneration, die jetzt als Rentner leben, teilweise allein, die brauchen in ihrer Heimatsprache Romane oder Zeitungen oder auch Zeitschriften, natürlich aber auch in Form der neuen Möglichkeiten, wie Online-Medien. Manchmal werden in den Bereichen Politik und Geschichte eher Bücher in deutscher Sprache ausgeliehen, weil viele Migranten der Meinung sind, dass diese Informationen frei sind und nicht politik- oder ideologieverhaftet. Es geht also um unzensierte Informationen über ihre Heimat. Was sie auch noch interessiert, sind Kinderbücher. Viele dieser ersten Gastarbeitercommunity kommen ja mit ihren Enkelkindern in die Bibliothek. Gerade mehrsprachige Medien leihen sie auch gerne aus oder lesen sie ihren Enkelkindern in der Bibliothek vor.
Um die Bibliothek auch für die ältere Generation attraktiver zu machen, bietet man dann Gesprächskreise an, Literaturgespräche über aktuellste Erscheinungen. Wir zum Beispiel bieten „Frankreich erlesen“ in Kooperation mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft. Wir organisieren jeden letzten Freitag eines Monats anderthalbstündige Veranstaltungen, z.B. zum Thema aktuelle Literatur aus Frankreich, aus Italien, aus der Türkei usw. Man müsste also gucken, welche Communities schon etwas längere Zeit in der Umgebung leben – also eine Bestandsaufnahme: wer lebt in meiner Kommune? Welche Sprachen sind vertreten? Und anhand dieser Daten könnte man die Angebote generieren und sie erreichen. Und man könnte dann mit ihnen zusammen, also mit den Migrantenselbstorganisationen, oder aber mit der Deutsch-Russischen, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft usw. monatlich einmal einen Überblick liefern über Literatur, ob das jetzt in der Originalsprache oder aber auch in der Übersetzung ist.
Das sind Angebote, die diese Communities auch nachhaltig an die jeweilige Bibliothek binden können, und die die Bibliothek auch attraktiv machen können.
Wenn Sie die Interkulturelle Bibliotheksarbeit im internationalen Vergleich betrachten – wie schneidet Deutschland da ab? Was läuft gut, wo sehen Sie Nachhole- und Weiterbildungsbedarfe?
Also ich finde, wir sind natürlich generell auf dem besten Weg. Im internationalen Vergleich stehen wir gar nicht so schlecht da.
Was in den Bibliotheken noch ausgebaut werden kann, ist die sogenannte Interkulturelle Kompetenz. Wir sind da auch auf dem besten Weg, es gibt ganz viele Veranstaltungen, viele Seminare, wie sich das Bibliothekspersonal bestens auf diese Zielgruppe vorbereitet. Manchmal ist der kulturelle Unterschied nicht so gering oder der Umgang mit manchen Communities etwas anders, denn Menschen aus bestimmten Kulturen kennen die Bibliotheken nicht als Dienstleister, sondern als Kontrolleure, gerade wenn sie aus einem Land kommen, in dem eine Diktatur herrscht.
Dazu kommt, dass viele der heutigen Flüchtlinge aus mündlich tradierten Gesellschaften kommen, oftmals auch aus ländlichen Gebieten. Und in Europa wird die Kultur oder das Alltagsleben schriftlich tradiert, also es gibt eine europäische oder eine deutsche Schriftkultur, in der sich nicht alle Migranten zurechtfinden. Das bedarf in vielen Fällen einer Einführung.
Es gibt bisweilen große Hürden, denn alles funktioniert hier schriftlich – man muss alles ausfüllen, Formulare, Schriftstücke usw. Das ist kein unbedeutendes Hindernis bei der Integration in die deutsche Kultur oder in die europäische Schriftkultur. Diese Hürden müssen wir vermitteln, oder es wäre natürlich noch schöner, wenn wir Kolleginnen und Kollegen hätten oder Auszubildende im bibliothekarischen Beruf, die einen Migrationshintergrund oder die studiert haben, was diese Kulturen betrifft. Das ist immer bereichernd, das geht es nicht nur um sprachliche Kompetenzen. Mittlerweile hat man in Bibliotheken auch Pädagogen, die nur bestimmte Zielgruppen bedienen, oder einen Kollegen, der nur die ältere Zielgruppe bedient. Und dann kann man jemanden haben gezielt für die interkulturellen Belange.
Ein weiterer Vorschlag wäre, dass man Ehrenamtliche, die spezielle Kenntnisse haben oder auch einen Migrationshintergrund, vielleicht Akademiker, auf irgendeine Weise in die Bibliotheksarbeit einbinden kann. Das sind manchmal die besten Brückenbauer zur Zielgruppe.
Was würden Sie Bibliotheken empfehlen, die gern mit neuen Zielgruppen arbeiten, diese aber irgendwie nicht erreichen mit Ihren Angeboten?
Die beste Vernetzungsarbeit läuft über die Eltern, da ist in einigen Gemeinschaften die entscheidende Multiplikatorin meistens die Frau. Und die Kinder erreicht man über die Schulen, über die Kindergärten. Die kann man gut erreichen, aber man muss die Eltern immer mit ins Boot holen, vor allem die Mutter. Wenn man sie im Boot hat, dann meist langfristig.
Die Kontaktarbeit zur Community gestaltet sich etwas anders. Man arbeitet zum Beispiel nicht so mit Flyern oder schriftlichen Materialien, um die Zielgruppe zu erreichen, sondern man muss sie einfach mündlich ansprechen, man muss eine eigene Adressliste anlegen mit Multiplikatoren, die zu diesen Gesellschaften Kontakt haben. Das heißt: man muss nicht jeden Tag selber zu einer Flüchtlingsunterkunft oder zu einem Stadtteil gehen, wo sich die Migranten aufhalten. Man braucht nur einige gute Kontakte. Manche Bibliotheken arbeiten sogar mit WhatsApp-Gruppen, genauso wie das die Schulen machen. Also Facebook-Gruppen oder WhatsApp, wenn die Kollegen und Kolleginnen vor Ort diesen Weg gehen, dann sollten sie tatsächlich ganz viele Führungen anbieten. In Form von Führungen kann man sie anbinden an Angebote.
Meistens gibt es auch in den meisten Städten und Kommunen einen Integrationsrat oder man kann ein Vereinsregister von der Stadt bekommen und erfahren, welche Vereine mit Migrationshintergrund in meiner Gemeinde eingetragen sind. Und man kann die Verbände direkt ansprechen und sie immer daraufhin weisen, dass wir Angebote für sie haben, dass wir so viele Medien und so viel Interessantes für sie haben.
Es kann gezielt in deutscher, einfacher Sprache geworben werden. Und oft haben diese Gruppen auch einen Sprachmittler. Eine Bibliothek muss nicht in unendlich vielen Sprachen aktuelle, veranstaltungsbezogene Werbung machen, das kann man sich nicht leisten.
Welche Bedarfe können Sie aus Ihrer Praxis benennen bei Kindern mit Migrationshintergrund, die kurz vorm Schuleintritt stehen bzw. bereits die Grundschule besuchen?
Für die Zielgruppe, die noch nicht so lange hier ist, bieten sich Deutschkurse an. Dabei können Kinder gemeinsam mit ihren Eltern lernen. Mit Hilfe von Fördermitteln lassen sich Projekte ins Leben rufen, bei denen Pädagogen eingesetzt und stundenweise bezahlt werden. Viele dieser Kinder können ja noch nicht den Kindergarten besuchen, weil die Prozedur bis dahin dauert, bis sie ihren Asylantrag gestellt haben, bis sie Bleiberecht haben. Die Bibliothek als freier Ort kann direkt dort eingreifen, sich mit den Flüchtlingsunterkünften oder den Flüchtlingsbetreuern zusammensetzen, Bücher einsetzen, um den Übergang von der Muttersprache zur Bildungssprache Deutsch zu erleichtern. Jeder Lernprozess braucht Begleiter, die den Kindern diesen Lernprozess erleichtern. Man kann das Lernen auch lernen. Wenn sie mit defizitären Methoden lernen, kommen sie nie richtig an. Wir können als Übersetzer zwischen der alten Kultur, der alten Sprache und der neuen Sprache dienen.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus – welche Veranstaltungsangebote sind in einer Bibliothek lohnenswert? Was funktioniert?
Wir bieten zum Beispiel multilinguale Lesestunden an, in denen Vorschulkinder die Möglichkeit haben, ihre Sprachen mit der deutschen Sprache vergleichen zu können. Das ist ein wichtiger Schritt erst mal, später brauchen sie das nicht mehr, aber der erste Eingang in die deutsche Sprache ist, über die eigene Muttersprache hinaus denken und übersetzen im Kopf, weil die Kinder übersetzen ständig. Dafür braucht man natürlich gute Vorlesepaten oder Vorleser. Wenn man diese Lesestunden mit Musik, mit Tanz, mit Basteln gestaltet, und auch noch die Eltern mit einbezieht, zum Beispiel mit Familiencafés, gern auch in deutscher, einfacher Sprache, dann kann man nebenbei noch ganz gezielt für andere Bibliotheksveranstaltungen werben.
Das sind die schon längst erprobten Veranstaltungsbeispiele. Beim Familiencafé in deutscher Sprache kann man ganz niederschwellig mit Pädagogen oder ehrenamtlich engagierten Kolleginnen und Kollegen aus den Kommunen zusammen erzählen zu unterschiedlichen Themen. Bei einigen Bibliotheken kann man Kaffee trinken und tatsächlich Kuchen essen, bei uns geht das nicht. Wir gestalten jeden Samstag zwischen 14 und 16 Uhr ein Familiencafé, das sind so Veranstaltungsangebote, die man tatsächlich durchführen kann. Wenn man dann auch noch einen Kaffee hat und tatsächlich essen kann, dann ist das auch gut, denn das kommt bei vielen Migranten-Communities gut an.
Solche Begleitprogramme sind tatsächlich wichtig, um Eltern zu erreichen und Kinder zu erreichen. Denn viele Kinder können tatsächlich nicht ohne ihre Eltern kommen. Also Familienarbeit und Elternarbeit sind sehr wichtig, und das läuft dann natürlich alles auch über die Führungen, wo man dann darauf verweisen kann.“
Download Interview mit Yilmaz Holtz-Ersahin
Vita
Unser Experte für "Interkulturelle Bibliotheksarbeit", Yilmaz Holtz-Ersahin, wurde 1972 in Hinis bei Erzurum in der Türkei geboren. Dort wuchs er auf im Spannungsfeld zwischen kurdischer, armenischer und türkischer Kultur.
1991 siedelte er nach Deutschland über und studierte Geschichte und Kommunikations-und Medienwissenschaften in Düsseldorf. An der Heinrich-Heine-Universität lehrt er seit 2004 im Integrationsstudiengang Medien- und Kulturwissenschaft.
Yilmaz Holtz-Ersahin war bis 2018 langjähriges Mitglied der dbv-Kommission für Interkulturelle Bibliotheksarbeit. Seit 2008 leitet er auch die interkulturelle Bibliotheksarbeit in der Stadtbibliothek Duisburg und ist dort als Lektor für fremdsprachige Literatur, Geschichte und Politik tätig.
Mit seinen Angeboten und Veranstaltungen in und außerhalb der Bibliothek setzt er sich aktiv für kulturelle Vielfalt und die Integration aller Bevölkerungsgruppen ein. Aktuell bietet er u.a. Demokratieführungen für Migrant*innen und Flüchtlinge an.