Ergebnisse

Das Modellprojekt „Welcome to my library“ möchte konkrete Arbeitshilfen zur Verfügung stellen.

Unsere Erkenntnisse aus dem Projekt und den etablierten Partnerschaften haben wir in vier Themenkomplexen unserer Methodensammlung für die Interkulturelle Bibliotheksarbeit zusammengefasst.

Wünsche der Zielgruppe

In einer Broschüre haben wir Wünsche und Anregungen von Personen mit Migrationsbiografien zusammengefasst. Die schönsten Zitate aus mehr als 20 leitfadengestützten Einzel- und Experteninterviews rund um die Themen Mehrsprachigkeit, Vorlesen, Bibliothekserfahrungen im Heimatland und Empfehlungen für deutsche Bibliotheken befinden sich in diesem Heft.

Befragung von Migrant*innen und Expert*innen

Hinweiskarten

Ein weiterer Bestandteil der Sammlung sind fünf Hinweiskarten für eine gelingende Interkulturelle Bibliotheksarbeit. In ihnen vereinigen sich konkrete Tipps mit passenden Angeboten für verschiedene Generationen, Verweise zu Materialien, Verlagen und Dienstleistungen sowie Anregungen für eine optimale Zielgruppenarbeit und Kontaktdaten für künftige Kooperationen.

1. TIPP Bibliothek als sozialer Ort – Was sollte die Bibliothek bieten?

2. TIPP Programmplanung – Welche Veranstaltungen kommen gut an?

3. TIPP Bestandsaufbau und Präsentation – Welche Medien werden gebraucht?

4. TIPP Kontaktarbeit – Wie erreiche ich die Zielgruppe?

5. TIPP Links – Wo finde ich Unterstützung?


Hinweiskarten (Gesamt): Tipps für die Interkulturelle Bibliotheksarbeit

Medienempfehlungen

Eine zweite Broschüre beinhaltet aktuelle Medienempfehlungen für Kinder- und Jugendbücher, Sprachfördermaterialien und pädagogische Fachliteratur. Wir haben die schönsten Geschichten mit ansprechenden Illustrationen sowie sinnvolle, praxiserprobte Materialien ausgesucht. Unsere Auswahl an kultur- und diversitätssensiblen sowie mehrsprachigen Kinder- und Jugendbüchern haben wir maßgeblich in Anlehnung an die Ergebnisse von 120 Befragungen innerhalb der Migrant*innencommunity getroffen sowie anhand des Kriterienkatalogs des Schweizer Verlags »Baobab Books« zusammengestellt. Nützliche Hinweise konnten wir darüber hinaus den von der »Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung« erarbeiteten Kriterien sowie der Auswahl an interkulturellen Kinderbüchern des »Verbands binationaler Familien und Partnerschaften« entnehmen.

Die Empfehlungsliste ist in folgende Kategorien unterteilt:

Diversität
Mehrsprachigkeit
Sprachförderung
Pädagogisches Begleitmaterial

...


Medienempfehlungen für Diversität und Mehrsprachigkeit in Kinderbüchern

Methodenkarten

Der letzte Teil unserer Methodensammlung umfasst insgesamt neun Methodenkarten zur Vorbereitung und Umsetzung von Veranstaltungen und mobilen Bibliotheksangeboten für unterschiedliche Altersgruppen. Wir haben dafür eigene Veranstaltungsformate ausgesucht, die besonders gut angenommen wurden und Angebote aus dem In- und Ausland, die uns begeistert haben. Mithilfe der Angaben zu benötigten Materialien, Personal und Teilnehmenden, zu möglichen Varianten und zusätzlichen Tipps für eine nachhaltige und effiziente Veranstaltungsarbeit können Bibliotheken diese Vorlagen problemlos übernehmen bzw. adaptieren.

1. METHODENKARTE Interkulturelle Stadtführung (©Stadtbibliothek Duisburg)

2. METHODENKARTE Frankreich (er)lesen »Plaisir de lire« (©Stadtbibliothek Duisburg)

3. METHODENKARTE Kamishibai-Workshop für Familien Material Methodenkarte 3

4. METHODENKARTE Schreibwerkstatt

5. METHODENKARTE Leselust statt Lesefrust (©Stadtbibliothek Duisburg)

6. METHODENKARTE »Demokratieführungen für Schüler*innen« (©Stadtbibliothek Duisburg)

7. METHODENKARTE #Bookstagram (©Stadtbibliothek Basel)

8. METHODENKARTE Alles Fake oder was? (©Stadtbibliothek Basel)

9. METHODENKARTE Sprachförderkisten (©Stadtbibliothek Erlangen)


Veranstaltungsvorlagen: Methodenkarten (Gesamt)


Interviews mit Expert*innen

Yilmaz Holtz-Ersahin

Interview mit Yilmaz Holtz-Ersahin,
 Leiter der interkulturellen Bibliotheksarbeit

Leiter der Interkulturellen Bibliothek in der Stadtbibliothek Duisburg, langjähriges Mitglied der dbv-Kommission Interkulturelle Bibliotheksarbeit

"Ich kann aus meiner beruflichen Praxis und auch aus meiner persönlichen, biografischen Geschichte sagen, dass mir in Deutschland die Bibliothek eine Heimat angeboten hat. Und Beheimatung bedeutet Integration in die Gesellschaft. [...] Die Sehnsucht nach Heimat kann über verschiedene Medien überbrückt werden. Das muss natürlich nicht nur in der jeweiligen Muttersprache sein."


Welche Wünsche an eine Bibliothek werden an Sie herangetragen von Migranten und Geflüchteten, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland leben?

Sie haben Sehnsucht nach ihrer alten Heimat, die sie über das Medium Buch überbrücken wollen. So ist es vor allem bei den Geflüchteten, die noch nicht lange hier sind. Sie haben zwar ein neues Zuhause, aber trotzdem haben sie noch eine nostalgische Beziehung zu ihrer alten Heimat. Die Sehnsucht nach ihr kann über verschiedene Medien überbrückt werden. Das muss natürlich nicht nur in der jeweiligen Muttersprache sein. Aber ein Zeichen des Willkommens ist natürlich auch fremdsprachige Literatur, alle sagen: "Falls ich mal Literatur aus meiner Heimat in der Bibliothek entdecke, dann ist das etwas Schönes." Ich kann aus meiner beruflichen Praxis und auch aus meiner persönlichen, biografischen Geschichte sagen, dass mir in Deutschland die Bibliothek eine Heimat angeboten hat. Und Beheimatung bedeutet Integration in die Gesellschaft.

Darüber hinaus wünschen sich Migranten im Bereich der Erstintegration Materialien zum Erlernen der deutschen Sprache, die sie ausleihen können, aber auch Räumlichkeiten, die sie für ihr Selbststudium nutzen können. Viele Migranten und Flüchtlinge haben keine geeignete Möglichkeit, sich zu Hause oder in den Unterkünften ungestört weiterzuentwickeln. Es gibt keinen ruhigen Platz, manchmal keinen Tisch zum Lernen.

Was wünschen sich die Eltern speziell für ihre Kinder von einer Bibliothek?

Viele wünschen sich Sprechstunden zum Bildungssystem in Deutschland - wie kommt man hier weiter? Wie können wir unsere Kinder unterstützen? Wo erhalten wir Hilfe? Wir haben ja auch verschiedene soziokulturelle Institutionen, die helfen können bei diesem sozialen Ankommen in Deutschland. Wir bieten solche Gesprächsrunden an. Was auch gut bei uns in der Stadtbibliothek Duisburg läuft, ist das Format "Heimat Duisburg", dabei kann man den Eltern zeigen, was man in Duisburg unternehmen kann, welche Angebote es gibt, welche Anlaufstellen es gibt, wo und wie Kinder ihre Freizeit gestalten können.

Welche Materialien und Angebote bieten sich aus Ihrer Sicht besonders gut an, um die Familien in die Bibliothek zu „locken“?

Also, nützliche Informationen über das Gastland bzw. das neue Heimatland. Aber auch über die eigene Kultur. Das war auch damals schon attraktiv für die Gastarbeiter, dass diese Informationen in den Bibliotheken bereitgestellt wurden, dass kulturelle Veranstaltungen kostenlos besucht werden können, dass ihnen multilinguale Medien zur Verfügung stehen. Es ist hilfreich, wenn Eltern wissen: ich kann die Sprache des neuen Heimatlandes erlernen, meine Kinder erweitern sich in der neuen Bildungssprache Deutsch, aber auch in der alten Sprache, in der wir sozialisiert wurden. Das ist bei vielen Eltern so etwas wie ein Ur-Wunsch.

Wenn Sie als Deutscher in Barcelona leben würden oder in den USA, würden Sie zwar Englisch oder Spanisch lernen wollen, aber auch gern ihre Muttersprache pflegen. Und das richtet sich nicht gegen die neue Sprache, sondern das ist einfach Multilingualität. Wie viele Kinder deutscher Diplomaten leben im Ausland mit unterschiedlichen Sprachen?
Es sind so viele Menschen bei uns, die ihre Kinder multilingual erziehen, auch weil die Menschen in dieser globalisierten Welt sich nicht in Sprachen aufhalten. Natürlich müssen die Menschen Deutsch lernen! Das ist wichtig, das würde ich jedem ans Herz legen.

Aber die Muttersprache ist etwas Sentimentales –  ich denke, jeder Mensch sollte das Recht haben, seine Muttersprache zu pflegen.

Welche Materialien und Angebote bzw. Veranstaltungen bieten sich an, um diese Personen gut auf das Ankommen im Alltag in Deutschland vorzubereiten?

Wichtig wäre, dass wir in den Bibliotheken Informationen, die auch multilingual oder in einer einfachen Sprache geschrieben sein können, über das Leben in Deutschland, über das Rechtssystem, den Alltag, die Werte und Normen zur Verfügung stellen. Denn nicht wenige kommen ja aus Kulturen, aus Diktaturen, aus gesellschaftlichen Kontexten, die nicht unbedingt mit europäischen Kontexten vereinbar sind. Das heißt nicht, dass sie nicht offen sind für Freiheit. Aber sie können durch die Angebote der Bibliothek leichter lernen, frei zu werden, frei zu denken, und das sind auch Überlebenstechniken hier.  

Dabei ist es wichtig, dass die Materialien, die man hat, in Form von Veranstaltungen angeboten werden. Das können ganz verschiedene Themen sein, wie zum Beispiel: Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland, Frauenrechte, Emanzipation, Demokratie in Deutschland - es gibt so viele Themen, die bei vielen anders verankert sind. Was auch gut funktioniert: Verkehrsregeln in Deutschland – mit dem Fahrrad unterwegs, Biodiversität, Mülltrennung und Nachhaltigkeit. Ich biete zum Beispiel bald eine Veranstaltung an zum Thema "Wälder in Deutschland - wie geht man mit Wasser, mit Ressourcen um?" Es sind so viele Themen, die man anbieten kann, dieser Phantasie ist keine Grenze gesetzt.

Alle vorhandenen Materialien, zum Beispiel Broschüren zum Thema Demokratie etc.,  sollten auch mit Hilfe von Führungen zugänglich gemacht werden. Sonst stehen die Informationen nur einfach da, und man fühlt sich dann frustriert als Bibliothekar oder Bibliothekarin. Und die Vermittlung der Materialien, dieser Medien, das bedarf einer intensiven Kontaktarbeit.

Welche Angebote und Medien werden gern genutzt von Migrantencommunities, die schon längere Zeit in Deutschland leben? Was bietet sich hier Ihrer Meinung gut an, um für diese Personengruppen als Bibliothek attraktiv zu werden?

Diese ganzen Communities kennen sich untereinander, und wenn man sie erreicht hat, hat man praktisch auch die anderen erreicht. Wir haben bei uns die erste Gastarbeitergeneration, die jetzt als Rentner leben, teilweise allein, die brauchen in ihrer Heimatsprache Romane oder Zeitungen oder auch Zeitschriften, natürlich aber auch in Form der neuen Möglichkeiten, wie Online-Medien. Manchmal werden in den Bereichen Politik und Geschichte eher Bücher in deutscher Sprache ausgeliehen, weil viele Migranten der Meinung sind, dass diese Informationen frei sind und nicht politik- oder ideologieverhaftet. Es geht also um unzensierte Informationen über ihre Heimat. Was sie auch noch interessiert, sind Kinderbücher. Viele dieser ersten Gastarbeitercommunity kommen ja mit ihren Enkelkindern in die Bibliothek. Gerade mehrsprachige Medien leihen sie auch gerne aus  oder lesen sie ihren Enkelkindern in der Bibliothek vor.

Um die Bibliothek auch für die ältere Generation attraktiver zu machen, bietet man dann Gesprächskreise an, Literaturgespräche über aktuellste Erscheinungen. Wir zum Beispiel bieten „Frankreich erlesen“ in Kooperation mit der Deutsch-Französischen Gesellschaft. Wir organisieren jeden letzten Freitag eines Monats anderthalbstündige Veranstaltungen, z.B. zum Thema aktuelle Literatur aus Frankreich, aus Italien, aus der Türkei usw. Man müsste also gucken, welche Communities schon etwas längere Zeit in der Umgebung leben – also eine Bestandsaufnahme: wer lebt in meiner Kommune? Welche Sprachen sind vertreten? Und anhand dieser Daten könnte man die Angebote generieren und sie erreichen. Und man könnte dann mit ihnen zusammen, also mit den Migrantenselbstorganisationen, oder aber mit der Deutsch-Russischen, der Deutsch-Polnischen Gesellschaft usw. monatlich einmal einen Überblick liefern über Literatur, ob das jetzt in der Originalsprache oder aber auch in der Übersetzung ist.

Das sind Angebote, die diese Communities auch nachhaltig an die jeweilige Bibliothek binden können, und die die Bibliothek auch attraktiv machen können.

Wenn Sie die Interkulturelle Bibliotheksarbeit im internationalen Vergleich betrachten – wie schneidet Deutschland da ab? Was läuft gut, wo sehen Sie Nachhole- und Weiterbildungsbedarfe?

Also ich finde, wir sind natürlich generell auf dem besten Weg. Im internationalen Vergleich stehen wir gar nicht so schlecht da.
Was in den Bibliotheken noch ausgebaut werden kann, ist die sogenannte Interkulturelle Kompetenz. Wir sind da auch auf dem besten Weg, es gibt ganz viele Veranstaltungen, viele Seminare, wie sich das Bibliothekspersonal bestens auf diese Zielgruppe vorbereitet. Manchmal ist der kulturelle Unterschied nicht so gering oder der Umgang mit manchen Communities etwas anders, denn Menschen aus bestimmten Kulturen kennen die Bibliotheken nicht als Dienstleister, sondern als Kontrolleure, gerade wenn sie aus einem Land kommen, in dem eine Diktatur herrscht.

Dazu kommt, dass viele der heutigen Flüchtlinge aus mündlich tradierten Gesellschaften kommen, oftmals auch aus ländlichen Gebieten. Und in Europa wird die Kultur oder das Alltagsleben schriftlich tradiert, also es gibt eine europäische oder eine deutsche Schriftkultur, in der sich nicht alle Migranten zurechtfinden. Das bedarf in vielen Fällen einer Einführung.

Es gibt bisweilen große Hürden, denn alles funktioniert hier schriftlich – man muss alles ausfüllen, Formulare, Schriftstücke usw. Das ist kein unbedeutendes Hindernis bei der Integration in die deutsche Kultur oder in die europäische Schriftkultur. Diese Hürden müssen wir vermitteln, oder es wäre natürlich noch schöner, wenn wir Kolleginnen und Kollegen hätten oder Auszubildende im bibliothekarischen Beruf, die einen Migrationshintergrund oder die studiert haben, was diese Kulturen betrifft. Das ist immer bereichernd, das geht es nicht nur um sprachliche Kompetenzen. Mittlerweile hat man in Bibliotheken auch Pädagogen, die nur bestimmte Zielgruppen bedienen, oder einen Kollegen, der nur die ältere Zielgruppe bedient. Und dann kann man jemanden haben gezielt für die interkulturellen Belange.

Ein weiterer Vorschlag wäre, dass man Ehrenamtliche, die spezielle Kenntnisse haben oder auch einen Migrationshintergrund, vielleicht Akademiker, auf irgendeine  Weise in die Bibliotheksarbeit einbinden kann. Das sind manchmal die besten Brückenbauer zur Zielgruppe.

Was würden Sie Bibliotheken empfehlen, die gern mit neuen Zielgruppen arbeiten, diese aber irgendwie nicht erreichen mit Ihren Angeboten?


Die beste Vernetzungsarbeit läuft über die Eltern, da ist in einigen Gemeinschaften die entscheidende Multiplikatorin meistens die Frau. Und die Kinder erreicht man über die Schulen, über die Kindergärten. Die kann man gut erreichen, aber man muss die Eltern immer mit ins Boot holen, vor allem die Mutter. Wenn man sie im Boot hat, dann meist langfristig.

Die Kontaktarbeit zur Community gestaltet sich etwas anders. Man arbeitet zum Beispiel nicht so mit Flyern oder schriftlichen Materialien, um die Zielgruppe zu erreichen, sondern man muss sie einfach mündlich ansprechen, man muss eine eigene Adressliste anlegen mit Multiplikatoren, die zu diesen Gesellschaften Kontakt haben. Das heißt: man muss nicht jeden Tag selber zu einer Flüchtlingsunterkunft oder zu einem Stadtteil gehen, wo sich die Migranten aufhalten. Man braucht nur einige gute Kontakte. Manche Bibliotheken arbeiten sogar mit WhatsApp-Gruppen, genauso wie das die Schulen machen. Also Facebook-Gruppen oder WhatsApp, wenn die Kollegen und Kolleginnen vor Ort diesen Weg gehen, dann sollten sie tatsächlich ganz viele Führungen anbieten. In Form von Führungen kann man sie anbinden an Angebote.

Meistens gibt es auch in den meisten Städten und Kommunen einen Integrationsrat oder man kann ein Vereinsregister von der Stadt bekommen und erfahren, welche Vereine mit Migrationshintergrund in meiner Gemeinde eingetragen sind. Und man kann die Verbände direkt ansprechen und sie immer daraufhin weisen, dass wir Angebote für sie haben, dass wir so viele Medien und so viel Interessantes für sie haben.

Es kann gezielt in deutscher, einfacher Sprache geworben werden. Und oft haben diese Gruppen auch einen Sprachmittler. Eine Bibliothek muss nicht in unendlich vielen Sprachen aktuelle, veranstaltungsbezogene Werbung machen, das kann man sich nicht leisten.

Welche Bedarfe können Sie aus Ihrer Praxis benennen bei Kindern mit Migrationshintergrund, die kurz vorm Schuleintritt stehen bzw. bereits die Grundschule besuchen?

Für die Zielgruppe, die noch nicht so lange hier ist, bieten sich Deutschkurse an. Dabei können Kinder gemeinsam mit ihren Eltern lernen. Mit Hilfe von Fördermitteln lassen sich Projekte ins Leben rufen, bei denen Pädagogen eingesetzt und stundenweise bezahlt werden. Viele dieser Kinder können ja noch nicht den Kindergarten besuchen, weil die Prozedur bis dahin dauert, bis sie ihren Asylantrag gestellt haben, bis sie Bleiberecht haben. Die Bibliothek als freier Ort kann direkt dort eingreifen, sich mit den Flüchtlingsunterkünften oder den Flüchtlingsbetreuern zusammensetzen, Bücher einsetzen, um den Übergang von der Muttersprache zur Bildungssprache Deutsch zu erleichtern. Jeder Lernprozess braucht Begleiter, die den Kindern diesen Lernprozess erleichtern. Man kann das Lernen auch lernen. Wenn sie mit defizitären Methoden lernen, kommen sie nie richtig an. Wir können als Übersetzer zwischen der alten Kultur, der alten Sprache und der neuen Sprache dienen.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus – welche Veranstaltungsangebote sind in einer Bibliothek lohnenswert? Was funktioniert?

Wir bieten zum Beispiel multilinguale Lesestunden an, in denen Vorschulkinder die Möglichkeit haben, ihre Sprachen mit der deutschen Sprache vergleichen zu können. Das ist ein wichtiger Schritt erst mal, später brauchen sie das nicht mehr, aber der erste Eingang in die deutsche Sprache ist, über die eigene Muttersprache hinaus denken und  übersetzen im Kopf, weil die Kinder übersetzen ständig. Dafür braucht man natürlich gute Vorlesepaten oder Vorleser. Wenn man diese Lesestunden mit Musik, mit Tanz, mit Basteln gestaltet, und auch noch die Eltern mit einbezieht, zum Beispiel mit Familiencafés, gern auch in deutscher, einfacher Sprache, dann kann man nebenbei noch ganz gezielt für andere Bibliotheksveranstaltungen werben.

Das sind die schon längst erprobten Veranstaltungsbeispiele. Beim Familiencafé in deutscher Sprache kann man ganz niederschwellig mit Pädagogen oder ehrenamtlich engagierten Kolleginnen und Kollegen aus den Kommunen zusammen erzählen zu unterschiedlichen Themen. Bei einigen Bibliotheken kann man Kaffee trinken und tatsächlich Kuchen essen, bei uns geht das nicht. Wir gestalten jeden Samstag zwischen 14 und 16 Uhr ein Familiencafé, das sind so Veranstaltungsangebote, die man tatsächlich durchführen kann. Wenn man dann auch noch einen Kaffee hat und tatsächlich essen kann, dann ist das auch gut, denn das kommt bei vielen Migranten-Communities gut an.

Solche Begleitprogramme sind tatsächlich wichtig, um Eltern zu erreichen und Kinder zu erreichen. Denn viele Kinder können tatsächlich nicht ohne ihre Eltern kommen. Also Familienarbeit und Elternarbeit sind sehr wichtig, und das läuft dann natürlich alles auch über die Führungen, wo man dann darauf verweisen kann.“

Download Interview mit Yilmaz Holtz-Ersahin

 

Vita

Unser Experte für "Interkulturelle Bibliotheksarbeit", Yilmaz Holtz-Ersahin, wurde 1972 in Hinis bei Erzurum in der Türkei geboren. Dort wuchs er auf im Spannungsfeld zwischen kurdischer, armenischer und türkischer Kultur.

1991 siedelte er nach Deutschland über und studierte Geschichte und Kommunikations-und Medienwissenschaften in Düsseldorf. An der Heinrich-Heine-Universität lehrt er seit 2004 im Integrationsstudiengang Medien- und Kulturwissenschaft.

Yilmaz Holtz-Ersahin war bis 2018 langjähriges Mitglied der dbv-Kommission für Interkulturelle Bibliotheksarbeit. Seit 2008 leitet er auch die interkulturelle Bibliotheksarbeit in der Stadtbibliothek Duisburg und ist dort als Lektor für fremdsprachige Literatur, Geschichte und Politik tätig.

Mit seinen Angeboten und Veranstaltungen in und außerhalb der Bibliothek setzt er sich aktiv für kulturelle Vielfalt und die Integration aller Bevölkerungsgruppen ein. Aktuell bietet er u.a. Demokratieführungen für  Migrant*innen und Flüchtlinge an.
 

Dr. Edgardis Garlin

Dr. phil. Deutsch als Fremdsprache, Vorstand Zentrum für kindliche Mehrsprachigkeit e.V., KIKUS Programmleitung

"Die Erstsprache - die Muttersprache oder die Familiensprache - ist einfach wichtig für die Identität, für die Ausbildung der Identität eines Menschen. Es geht nicht darum, dass er in einem Identitätskonflikt steht, sondern diese Menschen bilden eine mehrsprachige Identität aus, wo sie sich in beiden Sprachen, in beiden Kulturen, manchmal sind es ja auch mehrere Kulturen, gut und frei bewegen können. [...] Die Förderung der Familiensprache ist natürlich auch wichtig für die Beziehungspflege innerhalb der Familie."


Welchem Irrglauben begegnen Sie in Ihrer Tätigkeit, wenn wir über Spracherwerb, Förderung der Zielsprache und Mehrsprachigkeit reden?

Was sich hartnäckig hält ist, dass Spracherwerb prinzipiell von ganz alleine funktioniert. Im Spracherwerb ist es wie auch bei der Erziehung ein Stück Arbeit, etwas zu vermitteln. Man muss Ansprechpartner sein, man muss zuhören können. Man muss sanft korrigieren, man muss ein Feedback geben, man muss sich mit den Kindern auseinandersetzen.

Bei der Förderung der Zielsprache wird oft gedacht, es ginge nur immersiv bzw. alltagsintegriert. Auch da muss man sehr vorsichtig sein, denn Immersion funktioniert eben nur dann, wenn die Mehrheit die Zielsprache spricht, und man tatsächlich als Minderheit in ein Sprachbad eintauchen kann. Wenn es aber nicht so ist, wenn mehr als 40-50 Prozent der Gruppe auch nicht die Zielsprache sprechen, dann bekommt man das mit der Immersion und dem Alltagsintegrierten alleine nicht so hin. Ich denke, es ist immer hilfreich, wenn man eine zusätzliche Förderung anbietet, von kompetenten Muttersprachlern.

Bei der Mehrsprachigkeit ist es im Prinzip genauso wie mit dem Erstspracherwerb: es passiert nicht einfach ganz nebenbei und ganz von alleine. Und alle Eltern, die ihre Kinder mehrsprachig erziehen, wissen eigentlich ein Lied davon zu singen, wie viele Hürden zu überwinden sind, um zu einer Mehrsprachigkeit beim Kind zu kommen.

Warum sollte die Pflege der Mutter- bzw. Familiensprachen gefördert werden, wenn die Kinder Deutsch lernen sollen? Ist das nicht ein Integrationshemmnis?

Die Erstsprache - die Muttersprache oder die Familiensprache - ist einfach wichtig für die Identität, für die Ausbildung der Identität eines Menschen. Es geht nicht darum, dass er in einem Identitätskonflikt steht, sondern diese Menschen bilden eine mehrsprachige Identität aus, wo sie sich in beiden Sprachen, in beiden Kulturen, manchmal sind es ja auch mehrere Kulturen, gut und frei bewegen können. Wenn eine Sprache unterdrückt wird, vor allem die Erstsprache, dann kann das in der Identitätsbildung zu schweren Problemen führen, weil ein wichtiger Teil des Ichs zurückgewiesen oder abgelehnt wird. Da gibt es auch Fälle, die belegen, dass es nicht förderlich ist für die mehrsprachige Entwicklung und auch nicht für die Zielsprache. Wenn wir nach China gehen würden und uns gesagt würde, wir sollten mit unseren Kindern mehr Chinesisch und weniger Deutsch sprechen, dann ist das schon ein ziemlich absurdes Gedankenspiel. Vielen Eltern ist es gar nicht möglich, kompetent in dieser Zielsprache mit ihren Kindern zu sprechen und dabei nicht ganz viele Fehler weiterzugeben.

Die Förderung der Familiensprachen ist natürlich auch wichtig für die Beziehungspflege innerhalb der Familie. Manche Eltern sprechen sehr gut Deutsch und entscheiden sich dafür, Deutsch mit ihren Kindern zu sprechen. Aber letztendlich gibt es ja noch mehr Menschen in der Familie. Zum Beispiel Großeltern, die vielleicht der Zielsprache nicht mächtig sind, zu denen aber der Kontakt gehalten werden soll. Und wenn Eltern die Zielsprache nicht gut erwerben konnten, dann  ist es umso wichtiger, denn ansonsten bricht ganz schnell die Kommunikation zwischen den Eltern und den Kindern ab, und das ist dramatisch.

Wenn man eine Sprachkompetenz in der Zielsprache aufbauen möchte, ist es sinnvoll, wenn man sich auch um die Erstsprache kümmert. Es ist ja auch bei uns Erwachsenen so, dass jeder Mensch die Sprachen zu Hilfe nimmt, die er vorher schon erlernt hat, um eine neue Sprache zu lernen. Und deswegen wäre es eigentlich dumm, die Erstsprache nicht zu fördern oder zu ignorieren. Man sollte sie mit einbeziehen.

Wie gestaltet sich die wissenschaftliche Diskussion in diesem Bereich im vergangenen Jahrzehnt. Wo besteht Konsens? Worüber wird gestritten?

Das eine ist der Bereich der Hirnforschung in Verbindung mit Mehrsprachigkeit. Die Untersuchungen sind überwiegend experimentell angelegt. Man kommt im Großen und Ganzen zu dem Ergebnis, dass sich eine mehrsprachige Entwicklung positiv auf die Hirnentwicklung auswirkt. Also nicht nur in Bezug auf Sprache, sondern dass man in verschiedenen Situationen besser switchen kann, es ist eine höhere Konzentration da, weil mehrsprachige Kinder permanent entscheiden müssen, welche Sprache sie in welcher Situation bzw. mit welchem Sprecher benutzen können.

Ein zweites Thema ist die Mehrschriftlichkeit. Oft bleibt die mehrsprachige Bildung im mündlichen Bereich stecken. Da bleibt es der Familie überlassen, sich um die Erstsprachen zu kümmern. Und da ist man sich einig, dass man eigentlich gar nicht zu einer ausgeglichenen Mehrsprachenkompetenz kommen kann, wenn das Deutsche als Schriftsprache, als Bildungssprache permanent Thema ist und gefördert wird, aber die Erstsprachen unter den Tisch fallen. Und so gibt es immer mehr eine Bewegung dahin, dass man Mehrschriftlichkeit auch als Thema erforscht und schaut, wie sich eine optimale Förderung im Bildungsbereich gestalten soll.

Dann gibt es im Bereich Sprachförderung eine große Diskussion, immer wieder, zwischen alltagsorientiert versus kompensatorisch. Es gibt eine große Lobby, die sagt, dass Sprachförderung nur alltagsorientiert funktionieren kann. Auch ich bin davon überzeugt, dass Sprache im Alltag gefördert werden muss, überhaupt keine Frage. Und ich sehe auch, dass das Kompensatorische, also eine gezielte Sprachförderung in Kleingruppen oftmals nicht den erwarteten Erfolg bringt. Aber schlicht und ergreifend deshalb, weil diese Kurse häufig von Menschen durchgeführt werden, die eigentlich nicht die erforderlichen Kompetenzen dafür haben, d.h. nicht dafür ausgebildet wurden. Ich bin davon überzeugt, dass es sehr wichtig ist, den Kindern mehr mitzugeben als es das Alltagsorientierte leisten kann. Und damit meine ich eine gut durchdachte und professionelle Förderung in Kleingruppen, um die Interaktion zu fördern und die Kinder häufiger in die Sprecherrolle zu bekommen. Dafür ist es wichtig, dass die Kompetenzen der Lehrkräfte, der Erzieherinnen, der Pädagogen in diesem Bereich ausgebaut werden. Denn ansonsten ist es anstrengend und frustrierend, wenn jeder versucht, das Rad neu zu erfinden ohne nennenswerte Erfolge.

Beim Thema Sprachentwicklungsstörung besteht absoluter Konsens darüber, dass Sprachstörungen nicht in der Mehrsprachigkeit begründet sind. Das wurde sehr lange und immer wieder verbreitet, dass eine mehrsprachige Erziehung oder ein mehrsprachiges Aufwachsen auch zu Sprachentwicklungsstörungen führen kann. Dem ist nicht so. Es kann sich natürlich rückwärts auswirken auf die Mehrsprachigkeit, aber eine Sprachentwicklungsstörung liegt immer in allen Sprachen vor.

Als ich angefangen habe, und ich arbeite  jetzt seit zwanzig Jahren in dem Bereich, wurden alle Kinder, die Sprachförderbedarf im Deutschen hatten, zum Logopäden geschickt, weil man überhaupt gar kein Handwerkszeug hatte, dem zu begegnen. Die Logopäden haben durchaus kommuniziert, dass bei den Kindern keine Sprachentwicklungsstörung vorliegt, dass sie hingegen einfach eine Förderung in der Zweitsprache Deutsch brauchen, was die Logopäden wiederum gar nicht leisten können. Damit wurde und wird auch noch regional sehr unterschiedlich umgegangen.


Wie ist KIKUS entstanden? Warum haben Sie eigene Materialien und Fortbildungen konzipiert?

KIKUS ist aufgrund einer Anfrage entstanden. Ein Kindergarten hat bei uns in der Sprachenschule angefragt, ob wir einen Deutschkurs für Ausländerkinder durchführen könnten, so hieß das damals. Das war 1998. Ich hatte mich bereits wissenschaftlich mit der Thematik auseinandergesetzt und im Fach Deutsch als Fremdsprache im Bereich Kindliche Mehrsprachigkeit promoviert. Ich hatte in der Doktorarbeit auch Empfehlungen ausgesprochen für die Förderung der Zweitsprache Deutsch oder einer Zweitsprache überhaupt. Und so hat sich dann auch die Gelegenheit geboten, das mal in der Praxis zu erproben. 1998 war das Thema Sprachförderung Deutsch überhaupt nicht existent. Natürlich gab es das in den Kindertagesstätten und in den Schulen, aber politisch war es überhaupt nicht verankert, weil man eben immer davon ausgegangen ist, dass die Kinder das in den jeweiligen Einrichtungen irgendwie lernen.

So hatte ich dann den ersten Kurs gemacht, mich auf die Suche begeben nach Materialien und festgestellt, dass es so gut wie gar nichts Vernünftiges gab. Bis auf die Sammlung von Wolfgang Meyer „Neue Wege in der Sprachförderung“ – das waren vier Bände an Materialien, die zusammengestellt wurden zu bestimmten Themenbereichen, aber da fehlte noch die Didaktik. Und ein anderer Aspekt fiel mir auf, weil ich selber eine mehrsprachige Familie habe: Ich fragte mich, warum denn die andere Sprache in den Materialien und überhaupt in den Kitas so gar keine Rolle spielte und komplett außen vor blieb. Ich habe dann angefangen, Materialien zu entwickeln. Und um auch ein bisschen Sprachförderung nach Hause zu tragen, hab ich die Materialien gleich mehrsprachig konzipiert, um auch den Eltern zu vermitteln, dass ihre Sprachen wichtig und sie die Profis dafür sind. Als sich das Ganze dann weiterentwickelte und mehrere Kurse  bevorstanden, hab ich mir dann einfach einen Zeichner gesucht, der meine Ideen umgesetzt hat.

Im Jahr 2001/2002 kam dann mit der ersten PISA-Studie eigentlich der Sprachförderboom. Plötzlich hat jeder Verlag Materialien anbieten wollen, Fortbildungen waren gefragt usw. Wir konnten dann eben schon auf ein paar Jahre Erfahrungen zurückgreifen, und die haben wir in den Fortbildungen weitergeben. Die, die es angenommen und es ausprobiert haben, machen es eigentlich kontinuierlich weiter, egal was gerade en vogue ist im Bereich Sprachförderung.

KIKUS ist aus der Praxis heraus entstanden, mit einer wissenschaftlichen Grundlage und schlichtweg weil es nichts gab.

Es gibt ja eine Fülle an Sprachlernmaterialien, die auf dem Markt sind – wo sehen Sie, vielleicht auch gerade im Vorschulbereich, Herausforderungen?

Mir fällt auf, dass es noch immer eine Vernachlässigung sowohl der Eltern als auch der Erstsprachen gibt. Dann wird bei den Materialien immer wieder deutlich, dass sie entweder handlungsorientiert oder wortschatzorientiert oder grammatikbasiert sind. Aber eigentlich braucht man alles. Und aus meiner Sicht ist das Wichtigste für alle Materialien ein ganz hohes Maß an Flexibilität.

Es gibt wunderbare Materialien, die wir in der Sprachförderung einsetzen können, die eher aus dem sprachtherapeutischen Bereich kommen, das sind ganz tolle, schöne, flexible und durchdachte Sachen. Aber sie sind meistens auf einen bestimmten Bereich beschränkt, in dem man ganz bestimmte sprachliche Aspekte trainiert. Flexibilität ist sehr wichtig, einfach weil jeder eine andere Gruppe hat. Jeder, der Sprachförderung macht, muss sozusagen die Dinge an den eigenen Bedarf bzw. den Bedarf der jeweiligen Gruppe anpassen.

Weshalb ist Sprachförderung schon in der Kita wichtig? Wie können Kinder optimal vorbereitet werden auf die Schule?

Die Schulsprache, die Bildungssprache wird ja schon vor der Schule ausgebildet. Literacy-Erziehung, der Umgang mit Büchern, der Umgang mit Schrift ist mittlerweile in vielen Bundesländern ein großes Thema. Denn unsere Schulbildung ist nun mal schriftbasiert. Wenn die Kinder sich schon mit Büchern auseinandersetzen und Geschichten vorgelesen bekommen, dann begegnen sie unter anderem auch grammatikalischen Konstruktionen, die sich in der mündlichen Sprache nicht finden, aber für den Schriftspracherwerb relevant sind. Im Alltag sagen wir: "Der Bär hat sich hingesetzt und hat angefangen, darüber nachzudenken." Und Vergangenheitsformen wie "aß, saß und ging" werden in der Mündlichkeit total vernachlässigt.

Kinder, die dieses Repertoire gar nicht erworben haben, tun sich in der Schule natürlich schwerer als Kinder, die das schon mal mitgenommen haben, die es schon aus dem Kindergarten kennen. Ähnliches gilt auch für Textaufgaben, da werden ebenfalls Konstruktionen verwendet, die auch deutschsprachigen Kindern große Schwierigkeiten bereiten. Das sind nicht die mathematischen Probleme, sondern sprachliche Probleme, und all diese Kompetenzen werden schon im Kindergarten angebahnt.

Je früher ich anfange, z.B. mit einer gezielten Sprachförderung bei Dreijährigen, desto besser vermeide ich, dass sich Fehler einschleichen, z.B. Artikelfehler, all die Sachen, die sich später dann in der Schule negativ auswirken. Und im Kindergarten können die Eltern noch viel, viel früher mit ins Boot geholt werden und so wirklich zu einer Bildungspartnerschaft motiviert werden.

Mit welchen Methoden können Kinder mit mehrsprachigem Hintergrund in der Kita unterstützt werden?

Je ritualisierter der Alltag ist, in dem sich Kinder zurechtfinden können, also liebevoll ritualisiert, desto besser ist das für Kinder, die noch kein Deutsch sprechen.
Dann sollte man sich darauf konzentrieren, dass bei dem Kind überhaupt etwas ankommt. Weniger ist mehr. Und man sollte unbedingt versuchen, die Kinder mehr in die Sprecherrolle zu bringen. Man muss Situationen kreieren, in denen alle Kinder etwas sagen. Man kann ruhig ein paar Vorgaben machen, ihnen einfach vormachen, wie es geht. Etwas vorsprechen, das sie dann auch nachsprechen können.

Man sollte Kleingruppenarbeit planen, damit Interaktionssituationen entstehen, also ein Pädagoge oder eine Pädagogin mit vier, maximal fünf Kindern im Alltag. Das ist dann ein Schutzraum für die Kinder, und letztendlich auch einer für Pädagogen. Man sollte viel loben, die kleinen Schritte wahrnehmen und zum Ausdruck bringen, dass man begeistert ist.

Welches Handwerkszeug brauchen Erzieher*innen? Wo sehen Sie Herausforderungen in der Ausbildung, wenn Sie den Alltag in (einsprachigen) Kitas beobachten?

Ich muss ein Bewusstsein kriegen für meine eigene Sprache, und was ich damit so tue. Das sollte unbedingt einen stärkeren Fokus bekommen, auch in der Ausbildung. Diese Elemente heißen dann „Deutsch als Zweitsprache“ oder „Deutsch als Zielsprache“. Ohne das geht es gar nicht mehr, denn in einer Kita wird man dem immer begegnen. Allerdings geht es nicht nur darum, welche Wörter wir benutzen oder welche Handlungsmuster es gibt, sondern es geht auch um das Thema Grammatik, es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein.

In Alltagssituationen in der Kita sollte man dem Kind den Raum geben, auch wenn es sich nur ganz schlecht ausdrücken kann, zum Ende zu kommen, wenn es etwas sagen möchte, und das nicht als Pädagoge zu übernehmen. Man braucht unbedingt Zeit zum aktiven Zuhören.

Außerdem ist es wichtig zu wissen, wie man Interaktionen in Kleingruppen wirklich gut planen kann, um bewusst mit Sprache umzugehen. Welche Methoden bieten sich an? Welche Spiele können zum Einsatz kommen? Ist Memory wirklich das richtige Spiel, wenn man es doch eigentlich komplett ohne Sprache spielen kann? Ist das dann wirklich Sprachförderung? Oder sollte man andere Spiele nehmen, zum Beispiel ein Quartett, vielleicht eine einfache Variante davon, um Sprache ganz einfach, aber gezielt zu verwenden? Wie kann ich dafür sorgen, dass die Kinder beiläufig wiederholen und sozusagen spielend Sprache üben? Ich denke, das ist ein wichtiger Aspekt in der Ausbildung, aber auch in der Weiterbildung.

Welche Rolle spielt das Vorlesen, die Auseinandersetzung mit Geschichten? Was würden Sie Eltern gern mit auf den Weg geben?

Was Bücher und Geschichten ganz stark vermitteln, sind Werte. Die Wertevermittlung findet in Bilderbüchern meistens recht unauffällig statt, aber es ist beeindruckend, wie Kinder sie annehmen. Geschichten helfen, das Handlungsmuster Erzählen zu erlernen, das die Grundlage ist für viele weitere sprachliche Handlungsmuster wie zum Beispiel Beschreiben, Argumentieren usw. Das ist ein ganz  wichtiger Aspekt beim Vorlesen. Diese Form der Sprache bekommt man nicht im Fernsehen, weil Fernsehen immer Mündlichkeit repräsentiert. Nebenbei können Geschichten natürlich auch den Eltern helfen, ihr Deutsch zu verbessern, wobei das jetzt nicht der Fokus sein sollte beim Vorlesen.

 

Download Interview mit Dr. Edgardis Garlin

 

Vita

Unsere Expertin im Bereich Mehrsprachigkeit und Sprachförderung ist Dr. Edgardis Garlin. Sie wurde 1964 in Bremen geboren und ist Begründerin und Leiterin des KIKUS-Programms.

Edgardis Garlin studierte Deutsch als Fremdsprache, Spanisch und Völkerkunde in München und promovierte 1997 über bilingualen Spracherwerb.

1998 legte sie mit dem ersten KIKUS Kinder-Sprachkurs den Grundstein für die KIKUS-Methode. Sie ist Gründungsmitglied des Zentrums für kindliche Mehrsprachigkeit e.V.

Heute beschäftigt sich Edgardis Garlin nach wie vor mit der Durchführung von Kinder-Sprachkursen. Sie konzipiert und leitet weltweit Fortbildungen und entwickelt weitere Materialien zur Sprachförderung, derzeit arbeitet sie an "KIKUS digital".